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Einleitung
Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm (Az. 11 U 127/21) befasst sich mit der Frage der Haftung des Rettungsdienstes bei organisatorischen Verzögerungen während eines Notfalleinsatzes. Im Zentrum des Falles steht die juristische Abwägung, ob eine vermeintliche Pflichtverletzung in der Einsatzorganisation eine Haftung begründen kann und unter welchen Bedingungen eine Beweislastumkehr zugunsten der geschädigten Partei in Betracht kommt. Die Entscheidung hat weitreichende Bedeutung für die rechtliche Einordnung von Fehlern im Rettungsdienst, die nicht unmittelbar die medizinische Behandlung, sondern vielmehr organisatorische und damit auch einsatztaktische Entscheidungen betreffen.
Sachverhalt und Prozessverlauf
Am Morgen des 19. Dezember 2016 erlitt ein Mann während eines Spaziergangs in einem abgelegenen Waldgebiet einen Herzinfarkt mit anschließendem Atemstillstand. Ein Notruf wurde um 08:12 Uhr abgesetzt, woraufhin ein Rettungswagen alarmiert wurde. Eine Laienreanimation erfolgte. Die Besatzung des Rettungswagens erreichte den Einsatzort nach knapp zehn Minuten, musste jedoch feststellen, dass die Zufahrt durch eine Schranke versperrt war. Anstatt eine Möglichkeit zur Öffnung der Schranke zu suchen oder auf technische Hilfsmittel zurückzugreifen, wobei es unklar geblieben ist, welche hiervon überhaupt verlastet waren, entschied sich das Rettungspersonal, den Weg zum Patienten mit der Notfallausrüstung zu Fuß zurückzulegen. Kurz darauf traf das mitalarmierte NEF ein. Die Besatzung ließ ebenfalls ihr Fahrzeug an der Schranke zurück und begab sich zu Fuß zur Einsatzstelle.
Die von Laien begonnene Reanimation wurde durch den Rettungsdienst fortgesetzt. Nach dem es zu einem ROSC kam, konnte der Patient intubiert, beatmet und kreislaufstabil ins Krankenhaus transportiert werden. Trotz intensiver medizinischer Maßnahmen erlitt er jedoch aufgrund der zeitweiligen Sauerstoffunterversorgung u.a. irreversible Hirnschäden (apallisches Syndrom) und wurde seit dem in einem Pflegeheim versorgt. Dort erkrankte er mehrfach an einer Aspirationspneumonien und verstarb schließlich einige Jahre später an einer solchen.
Die Erben des Patienten erhoben schließlich Klage gegen die Stadt als Trägerin des Rettungsdienstes mit der Begründung, dass die Verzögerung durch die Entscheidung der Rettungskräfte, zu Fuß zu gehen, eine grobe Pflichtverletzung darstelle und maßgeblich für die gesundheitlichen Folgen des Patienten verantwortlich sei. Im Übrigen gelte angesichts der groben Pflichtwidrigkeit eine Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin. Außerdem gehöre es zu der Pflicht eines Rettungsdienstträgers, die Rettungswägen standardmäßig mit Schrankenschlüsseln und weiterem technischen Gerät auszustatten.
In erster Instanz wies das Landgericht Arnsberg die Klage mit der Begründung ab, dass eine solche Verzögerung zwar unglücklich, aber nicht kausal für den Schaden des Patienten gewesen sei. Zudem könne eine Beweislastumkehr nach § 630h Abs. 5 BGB, die bei groben ärztlichen Behandlungsfehlern angewandt wird, hier nicht zur Anwendung kommen, da es sich nicht um einen eigentlichen Behandlungsfehler, sondern um eine organisatorische Entscheidung der Rettungskräfte gehandelt habe.
Dies sah das OLG Hamm, in dem durch die Kläger eingelegten Berufungsverfahren anders und setzte sich detailliert mit der Frage der Verantwortlichkeit und Beweislastumkehr auseinander.
Rechtliche Würdigung und Beweislastumkehr
Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung stand die Frage, ob die, für medizinische Behandlungsfehler, entwickelten Grundsätze der Beweislastumkehr auch auf organisatorische und berufsrechtliche Fehler des Rettungsdienstes übertragbar seien.
Grundsätzlich liegt die Beweislast für eine Pflichtverletzung und deren Kausalität für den entstandenen Schaden (also für die haftungsbegründende Kausalität) beim Kläger. Soweit die Beweislast grundsätzlich beim Patienten (Kläger) liegt, kehrt sich diese gemäß § 630h Abs. 5 S. 1 BGB zu seinen Gunsten in Fällen grober Behandlungsfehler für die haftungsbegründende Kausalität mit der Konsequenz um, dass der Behandler (Beklagter) nun das Gegenteil – nämlich die fehlende Ursächlichkeit – beweisen muss. Dies ist in vielen Fällen ein unmögliches Vorhaben.
Das Prinzip der Beweislastumkehr ist ein, bereits seit der reichsgerichtlichen Rechtsprechung genutztes Prinzip, dem Patienten/Behandelten im Fall grober Fehler mit einer gerechten Interessensabwägung entgegen zu kommen (RGZ 171, 168 (171) m.w.N.) und wurde letztlich im Rahmen des Patientenrechtegesetztes von 2013 in § 650h BGB kodifiziert. Bisher war es jedoch unklar, ob diese Grundsätze beschränkt nur auf die Annahme medizinischer Fehler anwendbar ein sollen. So hatte es das OLG Köln noch 2007 gesehen und gerade in Bezug auf den Rettungsdienst im Fall von organisatorischen und berufsrechtlichen Fehlern abgelehnte.
Das Oberlandesgericht Hamm stellte jedoch klar, dass die Grundsätze der Beweislastumkehr nicht ausschließlich auf medizinische Behandlungsfehler zu beschränken sind. Es verwies auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach eine Beweislastumkehr auch bei groben Verletzungen von Berufs- oder Organisationspflichten anderer Akteure im Gesundheitswesen angewandt werden kann. So wurde in der Vergangenheit eine Beweislastumkehr beispielsweise bei groben Pflichtverletzungen von Hebammen oder Pflegekräften anerkannt.
Die Interessenlage bei groben Behandlungsfehlern und die Billigkeitserwägungen in solchen Fällen dem Patienten eine Beweiserleichterung zuzusprechen, sind mit der groben Verletzung sonstiger Berufs- und Organisationspflichten immer dann vergleichbar, wenn auch diese dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer und insoweit gerade auch dem Patienten dienen.
Nur klarstellend sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass unabhängig von einer möglicherweise eingetretenen Beweislastumkehr, der Kläger immer die Verletzung der Berufs- und Organisationspflicht beweisen können muss, ebenso wie alle Umstände, die einen Verstoß hiergegen als grob erscheinen lassen.
Erst dann kann es überhaupt zu einer Beweislastumkehr kommen.
Würde keine Beweislastumkehr zugunsten der Kläger angenommen werden können, müsste ein Kläger neben einer Pflichtverletzung, auch die Kausalität für den eingetretenen und geltend gemachten Schaden nachzuweisen im Stande sein, was ebenso wie im Fall des Gegenbeweises oft ein unmögliches Unterfangen ist.
Im vorliegenden Fall gelang dies den Klägern bereits deshalb nicht, weil durch den Sachverständigen nicht nachweisbar war, dass die eingetretene Zeitverzögerung (Laufen statt Fahren) die festgestellten Gesundheitsschäden verursacht wurden. Vielmehr konnte nicht ausgeschlossen werden (unklare Wirksamkeit der erfolgten Laienreanimation), dass die Schäden bereits zum Zeitpunkt des Eintreffens des RTW vorgelegen und damit nicht mehr vermeidbar waren.
Es blieb also letztlich nur die Frage nach einer groben Pflichtverletzung und damit nach der Anwendung der Beweislastumkehr.
Verantwortlichkeit des Rettungsdienstes für nicht-medizinische Fehler
In dem Berufungsverfahren wurden damit letzten Endes zwei weitere relevante Fragestellungen aufgeworfen.
Erstens:
Gib es für den Träger des Rettungsdienstes die Verpflichtung alle Rettungsmittel mit speziellen, an die jeweilige Örtlichkeit angepassten Schlüsseln auszustatten?
Zweitens:
War die Entscheidung der Rettungskräfte, zu Fuß zum Patienten zu gehen, anstatt nach einer Öffnung der Schranke zu suchen, grobpflichtwidrig?
Das Gericht führte aus, dass eine Haftung des Rettungsdienstes für Fehler außerhalb der eigentlichen medizinischen Behandlung grundsätzlich in Betracht kommt, wenn diese in einem objektiv grob fehlerhaften Vorgehen bestehen. Eine grobe Pflichtverletzung liegt insbesondere dann vor, wenn die Rettungskräfte gegen eine anerkannte medizinische oder organisatorische Standardvorgabe verstoßen haben oder eine Entscheidung getroffen wurde, die unter den gegebenen Umständen unter keinen Umständen mehr vertretbar erscheint.
Hinsichtlich der ersten Frage konnte keine verbindliche Organisationsverpflichtung festgestellt werden, solche Schrankenschlüssel auf einem Rettungsmittel mitzuführen, weshalb hieraus auch kein Vorwurf erhoben und als relevante Pflichtverletzung geltend gemacht werden konnte.
Bezüglich der zweiten Frage konnte das Oberlandesgericht keine derart grobe Pflichtverletzung, also keine gravierende Fehlentscheidung der Rettungswagenbesatzung feststellen, welche zu einer Beweislastumkehr und damit zu einer Kausalitätsannahme geführt hätte.
Die Entscheidung des RTW-Teams, zu Fuß zu gehen, war zwar möglicherweise in den Augen des OLG Hamm, nicht die effizienteste und bestzutreffende, beruhte jedoch auf einer noch vertretbaren Einschätzung der Situation. Die Rettungskräfte hatten von anwesenden Zeugen Hinweis erhalten, dass sich der Patient „nicht weit entfernt“ „da hinten“ befinde. Was noch an weiteren Informationen zur Verfügung stand, bzw. wie die Kommunikation beim Eintreffen des RTW mit den vor Ort anwesenden Zeugen verlief, konnte das OLG nur eingeschränkt aufklären. Das Gericht stellte jedoch in seinen Entscheidungsfokus, dass die Besonderheiten einer Einsatzsituation, der hohe psychische, aber auch äußerliche Entscheidungsdruck, hier besonders hervorgehoben durch das Stichwort „Reanimation“, einer besonderen Berücksichtigung bei Kategorisierung als grob bedarf. Sprich, das OLG berücksichtigt ganz explizit die jeweilige Einsatzsituation. Eine grobe Pflichtverletzung wäre damit erst dann anzunehmen, wenn die konkrete Entscheidung, hier zu Fuß weiter zur Einsatzstelle zu gehen, nicht nur als suboptimal, sondern gerade als vollkommen unverständlich und in keiner Hinsicht mehr, als nachvollziehbar gewertet werden kann. Dies war aber gerade nicht der Fall.
Das Gericht hat somit eindeutig und klar auf die individuellen Belange in einer Einsatzsituation abgestellt und trägt damit dem psychischen Druck und der fehlenden Entscheidungs- und Abwägungszeit in ausreichendem Maß Rechnung.
Fazit und Bedeutung des Urteils
Das Oberlandesgericht Hamm bestätigte in seinem Urteil zwar die erstinstanzliche Entscheidung und wies damit die Klage endgültig ab. Die zentrale Begründung lag jedoch in der fehlenden groben Pflichtverletzung der Rettungskräfte sowie in der nicht nachweisbaren Kausalität zwischen der verzögerten Versorgung und dem eingetretenen Schaden. Eine Beweislastumkehr wurde gerade nicht angenommen, da die getroffene Entscheidung nicht als schwerwiegender Verstoß gegen anerkannte medizinische oder organisatorische Standards gewertet werden konnte.
Gleichwohl stellt das OLG Hamm im Gegensatz zum Landgericht Arnsberg klar, dass sehr wohl auch bei der Verletzung von Berufs- und Organisationspflichten eine Beweislastumkehr für die haftungsbegründende Kausalität in Betracht kommen kann, Voraussetzung sei ein nachweisbarer, grober Pflichtverstoß.
Die Entscheidung des Gerichts verdeutlicht, dass der Rettungsdienst für Fehler außerhalb der eigentlichen medizinischen Behandlung haftbar gemacht werden kann, jedoch nur unter strengen Voraussetzungen.
- Es muss nachgewiesen werden, dass eine objektiv unvertretbare Entscheidung getroffen wurde, die maßgeblich zum Schaden beigetragen hat.
- Darüber hinaus zeigt das Urteil, dass eine Beweislastumkehr nicht automatisch bei jeder organisatorischen Fehlentscheidung greift, sondern nur bei einem groben Verstoß gegen etablierte Standards.
Da das Gericht jedoch auch ausdrücklich auf die Einhaltung bestehender Vorschriften zu Ausrüstungsmaterialien verwies, ist auch dies für eine mögliche Haftung im alltäglichen Umgang von nicht zu unterschätzender Relevanz.
Denn nicht nur taktische Entscheidungen im Rahmen der Einsatzfahrt (Route, Aufstellung des Fahrzeuges usw.) und der einsatztaktischen Abwicklung des Einsatzes können zu groben Pflichtverletzungen führen, sondern auch bspw. ein mangelhafter Umgang mit der medizinischen und rettungsdienstlichen Ausrüstung des Rettungsdienstfahrzeuges (Medizinprodukte und andere Ausrüstungsgegenstände); so z.B. u.a. im Fall von fehlendem Verbrauchsmaterial bis hin zu defekten Medizinprodukten ist vieles denkbar.
Unter diesem Aspekt gewinnt bspw. ein gut dokumentierter Fahrzeug- und Gerätecheck eine ganz neue Bedeutung.
Für den Rettungsdienst bedeutet dieses Urteil zudem, dass eine präzise Dokumentation von Entscheidungen während eines Einsatzes von herausragender Bedeutung ist.
Letztlich aber stärkt die Entscheidung das Verständnis dafür, dass Rettungskräfte unter erheblichem Zeitdruck Entscheidungen treffen müssen und nicht nachträglich mit der Ex-post-Perspektive eines Gerichtes gemessen werden dürfen, sofern sie innerhalb eines vertretbaren Handlungsspielraums agieren.
Notwendiger Annex: „Mit keinem Bein im Knast“ !
Die Annahme, man sei in jedem Einsatz mit einem Bein im Knast, ist auch und gerade nach dieser Entscheidung, weiterhin der größte Schwachsinn und zeugt von größt möglichem Unwissen.
Wer dies sagt, propagiert Unwahrheiten und rückt immer wieder unnötigerweise Ängste in den Vordergrund, ohne das dies auch nur im Ansatz gerechtfertigt wäre.
Mit solchen Aussagen wird unserer Ansicht nach offensichtlich NUR Unwissenheit dokumentiert, lähmende Angst verbreitet, oder sie erfolgen, um ggf. Werbung für eine eigene Dienstleistung zu machen, die sich ansonsten nur schlechter verkaufen würde.
Es gibt natürlich Gefahren im Dienstalltag, die eine strafrechtliche Haftung auslösen können. Die gibt es jedoch in vergleichbarer Weise auch jedes Mal, wenn wir uns ans Steuer eines Kraftfahrzeuges (privat und beruflich gleichermaßen) setzen, in welchen Fällen aber niemand jammert, zu Recht. In beiden Fällen ist der Knast – freiheitsentziehende Maßnahme – jedoch nahezu ausgeschlossen Erst recht, wenn man einfach einen vernünftigen (fachlich und handwerklich) Job erledigt.
Sollte man dennoch einmal einen strafrechtlichen Vorwurf gemacht bekommen, oder dieser zu befürchten sein, sollte ein Strafverteidiger konsultiert und auf ihn gehört werden. Das Bein ist dennoch noch nicht im Knast.
Quelle:
Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 26.10.2022, Az. 11 U 127/21
Kammergericht Berlin, Urteil vom 19.06.2017, AZ. 20 U 147/16
Bundesgerichtshof, Urteil vom 16.04.2000, AZ. VI ZR 321/98
Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.11.1979, AZ VI ZR 83/69
Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.05.2017, AZ III ZR 92/16
Bundesgerichtshof, Urteil vom 23.11.2017, AZ III ZR 60/16
Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 22.08.2007, AZ 5 U 267/06
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© Die Rettungsaffen, März 2025
