Das ein Notfallmediziner immer auch eine Eierlegendewollmilchsau sein muss, ergibt sich aus der Natur der Sache. Das macht den Bereich so unglaublich reizvoll und spannend, bringt aber auch immer wieder so manche Schwierigkeiten mit sich.
Bisweilen ist man im Rettungsdienst und in der Notfallmedizin mit psychiatrischen Notfällen konfrontiert. Diese müssen nicht immer lebensbedrohlich sein, können es jedoch sehr schnell werden, was rasch vergessen wird. Das Thema Suizid steht hierbei hoch im Kurs. Diese Formulierung soll indes nicht despektierlich wirken, sondern nur verdeutlichen, wie es im rettungsdienstlichen Alltag ist. Dabei ist es immer wieder entscheidend auch darauf hinzuweisen, dass es nicht darum geht, einen Patienten zu seinem Wohl zu zwingen, sondern die Hilfe anzubieten, die er benötigt.
Jeder Mensch hat aber auch das Recht, selbst und frei über sein eigenes Leben zu entscheiden. Der frei verantwortliche Suizid ist damit auch ein Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Dieses setzt jedoch voraus, dass jener dazu auch in der Lage ist, also voll einwilligungsfähig sein muss. Wir hatten uns mit dieser Fragestellung im Zusammenhang mit der Reanimation in unserem Podcast beschäftigt, worauf an dieser Stelle zunächst verwiesen werden soll. Das Selbstbestimmungsrecht eines jeden endet dort, wo andere gefährdet oder selbst in dem eigenen Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt werden.
Das Alarmstichwort „psychischer Ausnahmezustand“ ist oft mit einem gewissen Stereotyp verbunden. Im Einsatzfall sollte jedoch der Blick hierdurch nicht verstellt sein. Dh. aber auch, dass zunächst immer organische Ursachen und Pathomechanismen, welche gewissen Notfallbildern immanent sind, ausgeschlossen werden sollten (wie zB. subcortikale Erkrankungen oder Verletzungen jeglicher Art, aber auch Intoxikationen unterschiedlicher Genese uvm.). Neben akuten Verletzungen und Erkrankungen (internistisch und neurologisch) sind immer auch psychiatrische Untersuchungen/Explorationen/Anamnesen erforderlich. Diese bedürfen zwar im Endeffekt immer auch einer fachärztlichen Vorstellung, müssen jedoch im Allgemeinen auch von allen Ärzten getroffen werden können, zumindest rudimentär und insbesondere in Bezug auf akute Suizidalität. Die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern kommt in einem Verfahren gutachterlich ganz klar zu folgendem Ergebnis:
„Die Prüfung von Suizidalität sei jedoch nicht ausschließlich Psychiatern vorbehalten. Eine entsprechende Exploration sei vielmehr Gegenstand des Staatsexamenswissens. Aus der Sicht ex ante hätten sich angesichts des schweren Suizidversuchs im Vorfeld der Aufnahme deutliche Hinweise für eine Gefährdung ergeben.“
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
„Ein 26-jähriger Patient war bei drogeninduzierter Psychose stationär psychiatrisch behandelt worden. Gleich nach der Entlassung fügte er sich eine Schnittwunde am linken Arm in suizidaler Absicht zu und wurde zur chirurgischen Versorgung der Chirurgischen Abteilung einer Klinik der Akut- und Regelversorgung zugeführt. Dort wurde er nach akuter Suizidalität befragt. Er verneinte zu diesem Zeitpunkt suizidale Absichten und wurde aufgefordert, sich zu melden, falls es ihm psychisch schlechter gehe. Nach operativer Versorgung verblieb der Patient über Nacht im Aufwachraum. Ab 0.30 Uhr klagte er wiederholt über psychische Probleme und verlangte nach Hilfe. Das betreuende Pflegepersonal erlebte den Patienten als psychisch stark angeschlagen und verständigte den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Die Pflege dokumentierte um 1.30 Uhr nachts wörtlich: „keine Reaktion ärztlicherseits erfolgt, Ignoranz der Problematik.“ Der Oberarzt wurde am Morgen gebeten, den Patienten deshalb möglichst früh zu visitieren. Um 9.15 Uhr wurde festgehalten, dass der Patient sehr wortkarg gewesen sei. Weitere Angaben zum psychischen Zustand wurden nicht dokumentiert. Der Patient solle im Aufwachraum bleiben. Unmittelbar darauf öffnete der Patient ein Fenster und sprang hinaus. Beim Sturz zog er sich ein epidurales Hämatom zu, das in einer Notfalloperation entlastet wurde. Dazu kamen ein mittelschweres gedecktes Schädel-Hirn-Trauma mit Kontusionsblutung, ein traumatisches Querschnittsyndrom ab C5 bei HWK-7-Luxationsfraktur, eine Orbitadach- und Seitenwandfraktur und ein Thoraxtrauma mit Brustbeinfraktur.“
Der komplette Fallbericht findet sich zum nachlesen hier.
Auch wenn dieser Sachverhalt eine klinische Situation zum Gegenstand hatte, lassen sich unserer Auffassung nach jedoch für die Präklinik einige, wichtige Schlüsse ziehen:
- Suizidalität ist immer ernst zu nehmen und anamnestisch abzuklären.
- Psychische Ausnahmezustände müssen sich nicht zwingend durch fulminante Suizidhandlungen zeigen. Sie sind vielmehr in vielen Fällen differenzialdiagnostisch mit in Betracht zu ziehen.
- Abzuklären ist auch immer wieder, inwieweit ein Patient einwilligungsfähig ist, bzw. ob nicht doch eine erhebliche Einschränkung der Einsichts- und Urteilfähigkeit angenommen werden muss.
- Zu berücksichtigen sind nicht nur die Angaben eines Patienten, sondern alle Umstände.
- Ergebnisse sind zu dokumentieren.
- Entsprechende Befunde sind auch im Rahmen einer Akutbehandlung immer wieder neu zu erheben.
Hinsichtlich der Dokumentation durch das Pflegepersonal – in dem oben zitierten Verfahren – ist zu vermerken, dass diese vollkommen richtig und konsequent gehandelt haben. Dies ist auch im Rahmen einer möglichen Remonstration von entscheidender Wichtigkeit. Auch hier lassen sich Parallelen in die Präklinik ziehen. Wir wollen an dieser Stelle auf unseren Blogbeitrag und den Podcast zur Frage der Remosntration verweisen. Die Grundsätze sollten immer beachtet werden.
Die Frage, wann eine zwangsweise Unterbringung angezeigt, bzw. indiziert ist und wie damit in der Präklink umgegangen werden kann, werden in weiteren Beiträgen beleuchten und freuen uns auf Eure Ideen, Fragen und insbesondere Erfahrungen. Schreibt uns!
